Montag, 5. November 2012

Was ist der Mensch?

Aus gegebenen Anlass möchte ich jetzt hier und heute mal zeigen, was eigentlich im Philosophieunterricht gelehrt wird. Vor allem, weil es zur Zeit mein Lieblingsfach ist - vorrangig in der 10. Klasse (für die Philo noch ganz neu ist nach dem ganzen Ethikgedöns) - und es ja doch den ein oder anderen Menschen gibt, dem sich der Sinn dieses Unterrichts nicht ganz erschließt (und ich es aber auch immer so schlecht erklären kann - Philosophie kann man nicht erklären, man muss es erleben ;-)). Jedenfalls schließen wir in drei Stunden mit dem Thema Erkenntnis (Was kann ich wissen?) ab und beginnen mit dem nächsten Thema Anthropologie (Was ist der Mensch?). Häufig beginnt man ja mit Herby:


Weil ich das aber bewusst nicht will - denn außer mir versteht ihn ja sowieso keiner - habe ich eine Geschichte gesucht und gefunden, die m.E. nach gut ins Thema einsteigen lässt. Geschrieben wurde sie von Stanislaw Lew, einem polnischen Philosophen und handelt von einem Gerichtsprozess. Titel passend zum Thema "Gibt es Sie, Mr. Johns?". Die Schüler spielen diese Szene zunächst nach und müssen dann in Kleingruppen zu einem einstimmigen Jury-Ergebnis kommen. So werden sie, hoffe ich zumindest, ganz von alleine wichtige Merkmale erarbeiten, die den Menschen ausmachen. Ich freu mich jedenfalls drauf. Und jetzt die - wie ich finde - sehr unterhaltsame Geschichte:



Beteiligte Personen: Richter, Anwalt Jenkins, Beklagter Johns, Donovan

Richter: Das Gericht erörtert nunmehr den Streitfall Cybernetics Company contra Harry Johns. Sind die Parteien anwesend?
Anwalt: Ja, Herr Richter.
Richter: Sie vertreten die Belange...
Anwalt: Ich bin der juristische Bevollmächtigte der Firma Cybernetics Comp., Herr Richter.
Richter: Und wo ist der Beklagte?
Johns: Hier bin ich, Herr Richter.
Richter: Würden Sie Ihre Personalien angeben?
Johns: Gern, Herr Richter. Ich heiße Harry Johns, geboren am 6. April 1917 in New York.
Anwalt: Ein Wort zur Hauptsache, Herr Richter. Der Beklagte spricht die Unwahrheit, er ist durchaus nicht geboren...
Johns: Bitte, hier meine Geburtsurkunde. Und im Saal ist mein Bruder, er...
Anwalt: Das ist nicht Ihre Urkunde, und dieses Individuum ist nicht Ihr Bruder.
Johns: Wessen sonst? Ihrer vielleicht?
Richter: Bitte um Ruhe. Herr Bevollmächtigter, gedulden Sie sich ein wenig. Nun, Herr Johns?
Johns: Mein seliger Vater Lexington Johns hatte eine Autowerkstatt und impfte mir die Leidenschaft zu diesem Beruf ein. Als Siebzehnjähriger nahm ich erstmals an einem Autorennen teil. Seither startete ich berufsmäßig siebenundachtzigmal und habe bis heute sechzehn erste Plätze errungen, einundzwanzig zweite...
Richter: Danke, diese Einzelheiten sind für den Fall unwesentlich.
Johns: Drei Goldpokale, drei Goldpokale...
Richter: Danke, habe ich gesagt.
Johns: Und einen silbernen Kranz.
Donovan, Präsident der Cybernetics Comp.: Da! Er hat sich verklemmt!
Johns: Darauf können Sie lang warten!
Richter: Bitte um Ruhe! Haben Sie einen Rechtsvertreter?
Johns: Nein. Ich verteidige mich selbst. Meine Sache ist so lauter wie Kristall.
Richter: Wissen Sie, welche Forderungen die Cybernetics Company Ihnen gegenüber geltend macht?
Johns: Ich weiß. Ich bin das Opfer der schurkischen Tätigkeit tückischer Finanzhaie...
Richter: Danke. Herr Bevollmächtigter Jenkins, würden Sie dem Gericht den Gegenstand der Klage darlegen?
Anwalt: Sehr wohl, Herr Richter. Vor zwei Jahren erlitt der Beklagte bei einem Autorennen in der Nähe von Chicago einen Unfall und verlor ein Bein. Damals wandte er sich an unsere Firma. Die Cybernetics Company erzeugt bekanntlich Arm- und Beinprothesen, Kunstnieren, Kunstherzen und andere Ersatzorgane. Der Beklagte bezog gegen Teilzahlung eine linke Beinprothese und erlegte die erste Rate. Vier Monate später wandte er sich neuerlich an uns, diesmal bestellte er Prothesen zweier Arme, eines Brustkorbs und eines Genicks.
Johns: Quatsch! Das Genick, das war im Frühling, nach dem Bergrennen!
Richter: Unterbrechen Sie nicht.
Anwalt: Nach dieser zweiten Transaktion belief sich die Verschuldung des Beklagten an die Firma auf 2.967 Dollar. Nach weiteren fünf Monaten wandte sich namens des Beklagten dessen Bruder an uns. Der Beklagte weilte damals im Monte-Rosa-Krankenhaus bei New York. Der neuen Bestellung gemäß lieferte die Firma nach Erhalt einer Anzahlung eine Reihe von Prothesen, deren Einzelaufzählung bei den Akten liegt. Dort figuriert unter anderem als Ersatz für eine Großhirnhalbkugel ein Elektronengehirn Marke Geniox zum Preis von 26.5oo Dollar. Hohes Gericht, bitte die Tatsache zu beachten, dass der Beklagte bei uns die Luxusausführung des Geniox bestellt hat, mit Stahlröhren, farbentreuer Traumbildanlage, Stimmungsentstörer und Sorgendämpfer, obwohl dies die finanziellen Möglichkeiten des Beklagten klar überstieg.
Johns: Freilich, das tät' euch so passen, wenn ich jetzt mit eurem Serienkleinsthirn herumholpern müsste!
Richter: Bitte um Ruhe!
Anwalt: Dass der Beklagte in der bewussten böswilligen Absicht handelte, der Firma die bezogenen Teile nicht zu bezahlen, davon zeugt auch die Tatsache, dass er bei uns keine gewöhnliche Armprothese bestellte, sondern eine Spezialprothese mit eingebauter Schweizer Uhr Marke Schaffhausen mit achtzehn Steinen. Als die Schuld des Beklagten auf 29.863 Dollar angestiegen war, klagten wir auf Rückgabe aller bezogenen Prothesen. Jedoch das Staatsgericht wies unsere Klage mit der Begründung ab, dass ihn der Entzug der Prothesen um das weitere Dasein gebracht hätte. Zu jener Zeit war nämlich von dem ehemaligen Mister Johns nur noch die eine Gehirnhälfte übrig.
Johns: Was heißt ,,ehemaliger Johns"? Wirst du von der Firma für Schimpfwörter bezahlt, Prozessverpfuscher?
Richter: Bitte um Ruhe. Wenn Sie die klagende Partei nochmals beleidigen, Mister Johns, dann werde ich Sie mit einer Geldbuße bestrafen.
Johns: Aber er beleidigt doch mich!
Anwalt: In diesem Zustand, das heißt, verschuldet und prothesenbestückt bis über beide Ohren bei der Cybernetics Company, die ihm so viel Güte bezeigt und im Nu alle seine Wünsche erfüllt hat, begann der Beklagte öffentlich nach allen Seiten unsere Erzeugnisse anzuschwärzen und über ihre Qualität zu meckern. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, nach drei weiteren Monaten bei uns vorzusprechen. Er klagte über eine Reihe von Beschwerden und Gebrechen, die sich, wie unsere Experten feststellten, daraus ergaben, dass sich seine alte Hirnhalbkugel in der neuen, sozusagen zur Gesamtprothese gewordenen Umgebung nicht wohlfühlte. Aus Menschenfreundlichkeit ließ sich die Firma nochmals herbei, die Bitte des Beklagten zu erfüllen und ihn ganz zu genialisieren, das heißt, seinen eigenen alten Gehirnteil durch einen genauen Zwilling des bereits eingebauten Apparats Marke Geniox zu ersetzen. Für diese neue Forderung stellte uns der Beklagte Wechsel auf die Summe von 26.95o Dollar aus, wovon er bis heute lediglich 232 Dollar und 18 Cents bezahlt hat. In Anbetracht des geschilderten Sachverhalts... Hohes Gericht, der Beklagte sucht mir böswillig das Reden zu erschweren, indem er mich mit allerlei Gezisch, Gezwitscher und Geknirsche übertönt. Hohes Gericht, bitte ihn zu vermahnen!
Richter: Herr Johns...
Johns: Das bin nicht ich, das ist mein Geniox. Der macht das immer, wenn ich intensiv denke. Bin ich etwa für die Cybernetics Comp. verantwortlich? Das hohe Gericht kann Herrn Präsidenten Donovan vermahnen, für diese Pfuscharbeit!
Anwalt: Dem geschilderten Sachverhalt entsprechend ersucht die Firma das Gericht, ihrer Forderung stattzugeben und ihr die vollen Eigentumsrechte an dem von ihr hergestellten, hier im Gerichtssaal befindlichen, eigenmächtig aufmuckenden Prothesengefüge zuzuerkennen, das sich unrechtmäßig für Harry Johns ausgibt.
Johns: So eine Frechheit! Und wo ist Johns, Ihrer Ansicht nach, wenn nicht hier?
Anwalt: Hier im Saal ist Johns nicht, denn die irdischen Überreste dieses bekannten Rennchampions ruhen verstreut an verschiedenen Autobahnen in ganz Amerika. Durch ein Gerichtsurteil zu unseren Gunsten wird demnach keine physische Person geschädigt, da die Firma nur das in Besitz nehmen wird, was von der Nylonhülle bis zum letzten Schräubchen rechtens ihr gehört!
Johns: Freilich! In Stücke wollen mich die zerlegen, in Prothesen!
Präsident Donovan: Was wir mit unserem Eigentum tun, das geht Sie nichts an!
Richter: Herr Präsident, ich ersuche Sie höflichst, Ruhe zu bewahren. Danke, Herr Bevollmächtigter. Was haben Sie zu sagen, Mister Johns?
Anwalt: Herr Richter, zu der Hauptsache möchte ich noch bemerken, dass der Beklagte im Grunde genommen gar kein Beklagter ist, sondern ein materieller Gegenstand, der behauptet, sich selbst zu gehören. Da er jedoch in Wirklichkeit nicht lebt...
Johns: Sie, kommen Sie mal rüber zu mir, dann zeig ich Ihnen, ob ich lebe oder nicht!
Richter: Tia... Hm, das ist wirklich ein sehr, sehr merkwürdiger Fall. Hm... […] [Ich bitte die Geschworenen, Ihr Urteil sorgfältig zu bedenken. Die Beweisaufnahme ist hiermit abgeschlossen.]

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